Mit der Aussage das Pilzjahr 2017 sei ein Ausserordentliches hat spätestens Ende Oktober keiner mehr eine dicke Lippe riskiert, auch der Müller nicht.
So durchstreift der in diesem Jahr schon oft Erfolgreiche zum x-ten Mal seine Reviere im schwarzen Wald mit der Überzeugung seine Dörrgeräte nochmals zünftig an köstlichen Scheiben von Steinpilz, Maronen und Co. arbeiten zu lassen und ignoriert dabei den spitzen Aufschrei der ihn begleitende Müllerin. Die steigt mit ihrem Pilzkorb am Arm gerade über den Drahtzaun welcher sich ihr wie beim letzten Vordringen ins das kleine aber feine Revier in den Weg stellt, heute jedoch unter Strom steht und ihr einen tüchtigen Hieb versetzt. Müllers einigen sich. Sie, die vom Elektrozaun Gepiesackte sucht die rechte Revierseite ab. Er, der Überzeugte nochmals das Ausserordentliche zu schaffen, die Linke.
Seinen Korb vorgehängt, schreitet Müller zur Tat. Doch komisch, da wo vor zwei Wochen die Pilze wie Unkraut aus dem Boden geschossen waren steht heute kein einziger. Stattdessen liegen hässliche Fladen überall. Die sind aber nicht vom Hirsch. Nein, diejenigen welche die Hinterlassenschaften anlegten, schauen mit schnaubend Nüstern den Abhang hinunter dem aufsteigenden Müller entgegen. Der denkt nicht an Rückzug, schlägt erstmal einen Bogen und geht mit ausholendem Schritt weiter.
Nun setzen sich die zottligen Urviecher-Mütter in Bewegung und kommen im gestreckten Galopp auf den Störenfried zu. Verdattert stellt sich der in eines der grossen Wacholdergebüsche. Von diesen stehen einige auf Müllers Pilzrevier, das inzwischen zweifelsfrei von den Urviechern in Beschlag genommen wurde. Wie sich der Müller durch den Hinterausgang des Gebüsches davon macht, rutscht im sein Herz in die Hose. Drei junge Viecher nähern sich trabend, zuvorderst der Kleinste und wahrscheinlich mutigste mit gesenktem, lockigem Haupt. Fein, im Rücken die Mütter mit einem wie es Müller scheint verschmitzten Lächeln im Gesicht, vor sich die drei Rabauken im vollen Angriff und sonst niemand der ruft: „Die wollen doch nur spielen!“
Mit vorgehängtem Pilzkorb rennt der zumSpielball erkorene Müller aus seiner Deckung. Die drei jungen Angreifer bleiben erst verdutzt stehen, derweil sich ihr davonrennender zweibeiniger Spielverderber mit seinen Füssen an einem kleinen Wachholderbusch verheddert und in der selben Sekunde kopfüber aufs Gesicht fliegt. Der Lederhut rutscht ins Genick, die Brille hoch auf die Stirn und die Oberlippe gerät zwischen die Zähne welche sich durch die hochklappende Kinnlade ins Fleisch eben dieser Lippe bohren. Derweil auch die Urmütter zum neuen Angriff blasen, rutscht der sich selber plattgelegte Müller auf den Knien zum nahen Weidezaun. Den unterquert er über den Boden rollend in dem Moment, wie die aus den Nüstern dampfenden Mütter, um nicht den spannungsgeladenen Zaun zu berühren, ihre Vorderbeine hinter ihm ins nasse Gras rammen.
Als Müller sich von seinem Schreck erholt, seine Brille und den Hut richtig aufsetzt und mit den Fingern sein Gesicht ertastet, kann er schmerzvoll feststellen nicht nur eine dicke Lippe riskiert zu haben!