Per Definition ist der ein Glückspilz, dem unerwartet oder häufig Gutes widerfährt. Der Müller ist seit Mitte Mai ein solch Glücklicher. Ihm ist unerwartet Gutes, man kann auch sagen nichts Schlechteres, widerfahren.
Wer glaubt der Müller habe den Topf einer Lotterie geknackt liegt falsch. Auch der welcher auf eine Frühpensionierung getippt hat, und wer glaubt, Müller ergatterte sich einen Platz an der Alters-Uni für alte Sprachen irrt ebenso. Die Sache ist etwas kompliziert, verknackter könnte man auch sagen und doch, eigentlich ganz simpel. Jetzt mal schön der Reihe nach erzählt, weshalb einer der Latein büffelt ein Glückspilz sein kann.
Mitte Mai 2017, in Frankreich
Es ist Donnerstagnachmittag an einem Feiertag. Müller ist mit Freunden in Frankreich unterwegs. Auf Fahrräder wird der nördliche Teil des Département Haut Saône Nahe der Ortschaft Corre durchstreift. Es gibt hier einen Reisemobil-Stellplatz, wo sich die Bande häuslich niedergelassen hat. Nach dem Mittag sind die vier Freunde von der ersten Tour zurück.
Die Markisen an den Reisemobilen werden ausgefahren. Es ist sehr heiss. Man flüchtet in den Schatten oder geht zur Kühlung gleich unter die Dusche, um sich zu erholen.
Nach gut einer Stunde des Ausruhen zuckt es den Müller in den Waden. Die zurückgelegten 36 km, so findet er, die sind etwas wenig Leistung für den schönen Tag und das Velo-Trikot ist ja kaum verschwitzt. So kommt es wie es immer kommt im Hause Müller, der Ungestüme verabschiedet sich und schwingt seinen Hintern nochmals in den Fahrradsattel. Etwa 20km nördlich gibt es einen anderen Reisemobil-Stellplatz, der soll erkunden werden.
Gleich hinter der Ortschaft Corre steigt die Landstrasse, mit dem für Frankreich typischen rauen Belag, stetig steil an. Vom Hügel herunter bläst ein kräftiger Wind. Müller beugt sich über den Fahrradlenker, tritt kräftig in die Pedalen und ist nach 20 Minuten schweissgebadet oben angelangt. Es ist halt doch einen Tick anspruchsvoller alleine unterwegs zu sein und von niemanden Windschatten zu bekommen.
Es geht weiter nach Norden und zwar Kilometer für Kilometer steil nach unten. In einer Stunde will er wieder zurück im Schatten sein. Die Ansage wird sich wohl knapp bis gar nicht erfüllen lassen.
Nach rasender Fahrt und weiteren 10 Minuten kommt Müller beim anderen Reisemobil-Stellplatz an.
Schnell ein paar Fotos mit dem Smartphone und eine Kurzmeldung an Frau und Freunde: „Komme erst in einer Stunde zurück. Viel Gegenwind. Nehme den kürzesten Weg.“
Im Nu ist der kürzeste Weg auf dem an der Lenkstange montierten GPS bestimmt. Los geht die Rückfahrt. Einen Teil der vorgeschlagenen Strecke kennt Müller von einer früheren Tour mit seiner Frau. Jedoch eine steile, geschotterte Strasse runter zu einem Bauernhof, dann 300 Meter davor rechts weg in den Wald, den Abschnitt kennt Müller nicht. Im Wald wurde Holz geschlagen und nicht alles weggeräumt. Absteigen, drüber steigen, schieben, Bach überqueren, kein Weg mehr! Das GPS zeigt geradeaus weiter. Richtig, jetzt tut sich ein schön angelegter, aber schmaler Weg auf. Es geht gemütlich rauf und runter. Meter für Meter leicht zu fahren. Aber es braucht mehr Zeit als geplant.
Vor Müller öffnet sich eine Waldlichtung. Wunderschönes Licht, über all hohes Gras. Müller geniesst den Anblick. Jedoch hätte er das besser sein lassen. Wie er wieder in die Richtung schaut, wohin das Vorderrad seines Fahrrades rollt, ist die Überraschung gross.
Vier Wochen später, in der Schweiz.
Müller tritt aus einem der Gebäude, welche an den Bahnhofsplatz seines Wohnortes grenzt, ins Freie. Hinter ihm schliesst sich geräuschlos die Schiebetür durch die er vor eineinhalb Stunden in den klimatisierten Raum an die Empfangstheke getreten war und seine Personalien kundtun musste. Dieselbe junge Frau, welche die Angaben in einen Computer tippte, reichte Müller vor dem Weggehen eine CD die in einem Umschlag aus bedrucktem Karton steckte, mit den Worten:
„Der Herr Staub bekommt noch alles schriftlich von uns!“
Einen Tag später sitzt Müller bei Herr Staub am Schreibtisch. Beide kennen sich schon länger.
„Ich schlage vor, wir ziehen einen Spezialisten bei,“ sagt Herr Staub, „der soll uns sagen wie da vorzugehen ist.“
Müller nickt und erwidert: „Ich weiss auch schon wen wir fragen. Letztes mal hat derjenige alles richtig gemacht. An seiner Arbeit konnte ich nicht das Geringste auszusetzen. Jetzt brauche ich noch eine Kopie des Berichtes vom Institut am Bahnhof. Den möchte ich studieren, damit ich dem Experten Fragen stellen kann. Du kannst mich sofort für eine Konsultation bei ihm anmelden.“
Zuhause liest Müller den Bericht:
Latein halt,
Rechte Schulter: mehrfragmentäre Fraktur des Tuberculum majus, gelenkseitiger Partialriss der Supraspinatus-Sehne ansatznahe. etc.
Linke Schulter: gelenkseitiger Partialriss der Supraspinatus-Sehne am Ansatz, ca. 1cm breit. etc.
und dieses Latein will erstmal verstanden sein. Aber es gibt ja das Internet. Dort wurde Müller schnell klar was mit den ihm unbekannten Wörtern gemeint ist. Wie es zu Müllers Lateinstunde kam, ist in den nachfolgenden Zeilen zu erfahren:
Vor einem Monat, Mitte Mai 2017, im Wald vor Corre
wird Müller von dem überrumpelt was sich auf der so lieblichen Waldlichtung vor dem Vorderrad seines Fahrrades auftut. Das Wahrgenommene wird in Bruchteilen einer Sekunde analysiert, die Reaktion erwogen und sofort ausgeführt. Müller zieht an beiden Bremshebel so schnell und stark wie er nur kann. Die Physik startet das gewünschte Anhaltemanöver. Jedoch nicht mit dem von Müller gewünschten Effekt. Die Federgabel des Fahrrades erfüllt ihren Zweck vorzüglich, sackt in sich zusammen, des Müllers Schwerpunkt schiesst nach vorne, wobei sich das Hinterrad mehr und mehr vom Grund des schmalen Pfades anhebt.
Müllers erster Gedanke:
„Hey, es geht nach unten, wie landen?“
Müllers zweiter Gedanke:
„Besser nicht auf dem Rücken, auch nicht auf den Kopf fallen!“
Bleibt bloss die Lenkstange loslassen, die Arme schützend über den Kopf und ab in den etwa einen Meter fünfzig breiten und einen Meter tief Graben. Dort unten gibt es keinen Platz für eine Rolle vorwärts wie Müller schmerzlich zu spüren bekommt.
Er knallt mit lautem Aufschrei des Schreckens, geschützt durch seine beiden Oberarmen in die Grubenwand. Die besteht aus feuchtem, schlagabsorbierendem Erdreich. Was Müller nicht viel einbringt. Nach kurzem Flug liegt er nun ziemlich belämmert und zusammengestaucht, sein Gesicht halbseitig in Dreck getunkt in einem Entwässerungskanal, irgendwo in einem Wald in Frankreich, wo ausser grunzenden Wildschweinen und deren Jäger keine Menschenseele auftauchen wird.
Die an Müllers Oberkörper aufkommenden Schmerzen kann das in die Blutbahnen schiessende Adrenalin und der beginnende Schockzustand nicht wegwischen. Mit Gefluche richtet er sich auf und kriecht über den Rand des Kanals, setzt sich hin und schüttelt beide Arme. Stechende Schmerzen kommen aus beiden Schultern. Die Beine und beide Hände sind in Ordnung. Die rechte Wange ist geschwollen und zum Kinn hin fühlt sich die Haut feucht an. Es blutet.
Wo ist das Fahrrad? Es liegt im Graben, ist aber scheinbar heil geblieben. Der letzte Woche gekaufte Helm lässt sich in einem Stück vom Kopf nehmen, ist nicht zerbrochen, bloss das Sonnenschild muss wieder aufgesteckt werden. Den Rucksack trug Müller die ganze Zeit am Rücken. Vermutlich hat er weitere Blessuren verhindert.
Auf das Fahrrad steigen traut sich Müller nicht. Er schiebt es neben sich her. Geht den Pfad weiter und kommt zu einem Holzsammelplatz. Von da führt eine unbefestigte Strasse nach links weiter. Müller steigt vorsichtig in den Sattel seines Zweirades und fährt die vom GPS vorgeschlagene Route weiter. Wenn es aber vorschlägt in den Wald zu fahren, bleibt Müller eisern und fährt auf der befestigten Strasse weiter.
Zurück am Stellplatz wird die überschrittene Zeitansage von den Anwesenden nur kurz thematisiert, dann bekommen die rechte Wange (ist nur ein Kratzer und mit Dreck zu gepappt), die zerschundenen Unterarme und das verdreckte Trikot volle Aufmerksamkeit geschenkt. Aber in den Abendstunden, schon im Bett liegend, bekommt Müller von seiner Frau tüchtig den Marsch geblasen. Auf Details wird hier verzichtet.
Müller schläft nicht gut. Immer wieder aufwachend, hat er Gelegenheit über das Geschehene nachzudenken. Was wenn er nicht weiter gekommen, die Verletzungen schlimmer und telefonieren überhaupt nicht möglich gewesen wäre?
Erwähnenswert der Umstand, dass die Ankündigung verspätet zurück zu kommen, erst im Laufe des Folgetages via Smartphone-Nachricht eintraf.
Glück gehabt!
Vier Tag nach dem Besuch bei Herr Staub, oder fünf Wochen nach dem Sturz vom Fahrrad.
„Grüezi Herr Müller“, begrüsst ein hörbar gut gelaunter Experte in Orthopädie das Sturzopfer von Corre.
„Machen sie ihren Oberköper frei. Wir testen ihre Beweglichkeit!“
Müller gehorcht und führt die gewünschten Armbewegungen aus.
Der Experte schaut zu und beginnt seinen Kopf zu schütteln.
„Sie können sich wieder anziehen. Ich erkläre ihnen am Bildschirm die am Montag im Radiologiezentrum beim Bahnhof gemachten Bilder. Aber eines kann ich ihnen jetzt schon sagen:
“ Sie sind ein Glückspilz! Wir brauchen nicht zu operieren. Die Verletzungen werden nach ein paar Monaten ausgeheilt sein.“
Na dann, ein Glücklicher mehr auf dieser Welt und viel gelernt der Müller, auch ein Bisschen Latein.